Realismus nach 1945: Zwischen Illusion und Wirklichkeit

Realismus nach 1945: Zwischen Illusion und Wirklichkeit
Realismus nach 1945: Zwischen Illusion und Wirklichkeit
 
Die Bezeichnung Realismus ist einer der bis heute am meisten strapazierten Begriffe der Kunstkritik. In den Vierziger- und Fünfzigerjahren, als die ungegenständliche Malerei in Europa und den USA die Kunstszene beherrschte, benannte man alles, was jenseits der Abstraktion entstand und auch nur annähernd mit Figuration und Erzählerischem zu tun hatte, als Realismus. Unter Realismus verstand man sowohl die Objektkunst, die mit Alltagsgegenständen arbeitete, als auch die politisch engagierte Kunst oder die Skulptur und die Malerei, die fotografische Genauigkeit anstrebten, aber auch die, die überhaupt Gegenständlichkeit zeigten. Galt die gegenstandslose Kunst als Sinnbild von Freiheit und kritischem Geist und avancierte zum Symbol eines demokratischen Gesellschaftssystems, so wies der Realismus dem Kunstschaffen eine politische Funktion zu, die mit didaktischen Aufgaben verbunden war. Dies war die künstlerische Entsprechung des Kalten Krieges, wobei die Fronten klar abgesteckt schienen: Realismus stand für die gesamte Kunst der sozialistischen Länder Osteuropas, Abstraktion für die kritische Kunst des kapitalistischen Westens.
 
Diese künstliche Einteilung, die politisch - und nicht kunsthistorisch - bestimmt war, geriet Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre völlig ins Wanken, als durch die Pop-Art über Nacht und quasi durch die Hintertür die Gegenständlichkeit wieder Einzug in das westliche Kunstschaffen hielt. Der radikalen Haltung der amerikanischen Pop-Art entsprachen in dieser Zeit in Europa die Vorstellungen des »Nouveau Réalisme«, dessen Vertreter sich 1960 um den Kunstkritiker Pierre Restany in Paris zusammengefunden hatten. Arman, Jean Tinguely, seine Ehefrau Niki de Saint Phalle und Daniel Spoerri forderten in ihrem Manifest eine Kunst, welche die Realität unverfälscht aufnimmt. Sie wandten sich weniger den klischeehaften Idealisierungen der Konsumgesellschaft zu, die sich dem Zwang zur Perfektion und dem Fortschritt verschrieben hatte, sondern fanden ihre Wirklichkeit auf der Kehrseite der Zivilisation: auf abgerissenen Plakatwänden, auf Schrottplätzen, auf Müllhalden. Sie entdeckten die Faszination der toten Dinge, des Gebrauchten und Verbrauchten wieder: Armans rostige Wasserkannen in einem Glaskasten - ein Ausschnitt der Wirklichkeit, gerahmt wie ein Bild.
 
Aus solchen Relikten des Alltags schufen sie Stillleben im klassischen Sinn - zeitgenössische und doch fast zeitlos wirkende Versionen des Vanitas-Motivs, des unpathetischen, aber eindringlichen Hinweises auf die menschliche Vergänglichkeit, der auch die holländischen Stillleben des 17. Jahrhunderts auszeichnet. Tinguely baute seine beweglichen Maschinenplastiken aus Schrottteilen und ausgedienten Fundobjekten; beim Einschalten eines primitiven Elektromotors schütteln, klirren, zucken und stampfen sie - Unsinnsmaschinen voller Poesie, voller Spott auf eine Leistungsgesellschaft, in der Maschinen immer perfekt und nützlich sein müssen.
 
In Großbritannien boten Maler mit sehr individuellen Strategien unterschiedlichste Lösungen an, die, noch in der Tradition verwurzelt, zu neuen Formulierungen des Realismus führten. Der Mensch, seine Existenz, seine Träume und sein Leid sind das Hauptthema der Bilder von David Hockney, Francis Bacon und Lucian Freud.
 
Ein besonderes Kapitel in der Geschichte der realistischen Tendenzen schrieb der Fotorealismus, der in Europa vor allem durch die documenta V (1972) in Kassel bekannt wurde. Er zielte nicht - wie oft angenommen - auf die möglichst naturgetreue Darstellung der Wirklichkeit. Sein Ausgangspunkt ist vielmehr das eigens hergestellte Foto oder Dia: Der Künstler setzt sich nicht mehr mit der Wirklichkeit, die fotografiert wurde, sondern mit der fotografierten Wirklichkeit auseinander. Das Sehen selbst, die Wechselwirkungen zwischen Beobachter und Beobachtetem, die Grenzen zwischen Illusion und Wirklichkeit sind die Themen dieser Malerei. Durch die überdimensionale Vergrößerung der Vorlagen, die dem Betrachter jedes Detail näher rücken soll, entsteht paradoxerweise eine Distanz und eine rätselhafte Fremdartigkeit, die das Auge unaufhörlich zu erkunden sucht. Dabei ist der malerische Prozess jeweils ein ganz anderer: Den mit Spritzpistole oder Pinsel geschaffenen Bildern von Richard Estes, Chuck Close oder Franz Gertsch liegen ganz unterschiedliche malerische Strategien zugrunde, die den hohen, konzeptuellen Anspruch dieser Kunst deutlich machen. Ähnliche Ziele verfolgte der Bildhauer Duane Hanson, wenn er in Kunststoff lebensgroße, dem Modell minutiös nachgebildete Einzelfiguren und Menschengruppen modellierte, die er mit charakterisierender Kleidung und Accessoires versah und zu spezifischen sozialen Szenen arrangierte.
 
In Deutschland ist die figurative Malerei äußerst komplex und vielschichtig. Neben Konrad Klapheck, dessen so präzise wie magische »Maschinenbilder« ebenso an die Kunst der Zwanzigerjahre anknüpften wie Klaus Staecks kritisch-satirische Plakate an die Fotomontagen John Heartfields, traten gerade hier mit Georg Baselitz, Anselm Kiefer, A. R. Penck, Sigmar Polke und Gerhard Richter unterschiedlichste Künstler hervor, die auch international große Erfolge feiern konnten. Baselitz gehörte mit Markus Lüpertz zu einer jüngeren, teilweise aus der Deutschen Demokratischen Republik übergesiedelten Generation von Malern; Anfang der Sechzigerjahre erarbeiteten sie abseits der aktuellen Szene in Berlin eine modellhafte Vision von Kunst, die das Wagnis einging, sich mit den Quellen der künstlerischen und geistigen Tradition Deutschlands auseinander zusetzen. Fälschlicherweise wurden diese Maler als Väter einer Bewegung angesehen, die Anfang der Achtzigerjahre einen so plötzlichen wie überwältigenden, wenn auch kurzlebigen Erfolg hatte: die »Neuen Wilden«.
 
Die existenzielle Malerei von Baselitz, die subversive Kraft von Polke, die in ironischen Travestien Tragödie und Komödie vereint, und die konzeptuelle Strategie von Richter erwiesen sich für die Entwicklung der Kunst am Ende des 20. Jahrhunderts als besonders fruchtbar und tragfähig. Zeigt doch diese Malerei, dass der Gegensatz zwischen Abstraktion und Realismus eine veraltete Konstruktion ist, da beide Begriffe wie die zwei Seiten einer Medaille letzlich das Gleiche meinen.
 
Dr. Evelyn Weiss
 
 
Kunst des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Ingo F. Walther. 2 Bände. Köln u. a. 1998.
 Sager, Peter: Neue Formen des Realismus. Kunst zwischen Illusion und Wirklichkeit. Köln 41982.
 Thomas, Karin: Bis heute. Stilgeschichte der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert. Köln 101998.

Universal-Lexikon. 2012.

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